Wie führe ich meine Leit-Ziege
zirka Juli 1975:
Aus der Erinnerung im August 2005 aufgeschrieben.
- Damals in den tiefen Siebzigerjahren in den Pyrenäen: unsere Ziegenherde graste tagsüber auf dem Hochplateau mit Buschbewachsung, einem unserer Gemeinde gehörenden Gelände von guten zehn km2. Die Ziegen wurden morgens dorthin geführt und dann alleine gelassen, gegen Abend erschienen sie meistens oben am Hang, darauf wartend, dass wir sie dort abholten und den schon von der Sonne verlassenen Hang hinunter heimführten (Ziegen gehen von sich aus nicht von einem hell sonnigen Ort hinab in eine dunkle Senke).
- Siehe dazu ein Photo unserer damaligen Ziegenherde.
- Die zirka 30 Tiere waren lange von einer guten alten Ziege angeführt worden, welche mit ihrer grössten Glocke und ihrem ruhigen Wesen, als gute Patriarchin die Herde immer heimbrachte. Dieses alte Weibchen, ihr Name war Bergère, kannte alle Wege. Als sie keine Milch mehr gab, wollte mein Mann sie nicht einfach dem Metzger abliefern, so schenkte er sie einer Hippyfreundin, deren einzige Ziege scheinbar depressiv schien und Gesellschaft brauche. Man nahm Bergère die gosse Glocke ab und führte sie in ihr sogenanntes Altersheim … mit dem Resultat, dass das Tier sofort jede Nahrung verweigerte und ein paar Tage später starb. Sie hatte die Trennung von der Gruppe, den Verlust als Leittier, nicht verkraftet.
- Die hierarchisch nachrückende neue Leitziege war nicht so gut, fand den Weg nicht immer zurück. Immer wieder passierte es, dass die Herde am Abend nicht mehr oben am Hang wartete, ihre zahlreichen Glocken nicht mehr uns mahnten, sie herunterzuholen.
- Wieder einmal, an einem sonnigen Abend, weit und breit keine Ziegen, kein Glockengeläute. Mein Mann war weg, der Herdenhund ebenfalls (aber der gehorchte mir sowieso nicht). Ich kletterte den Hang hinauf, ging aufs geratewohl, der Intition nach, in eine Richtung und fand bald die Herde in einer leichten Senke, im tiefen, undurchdringlichen Gebüsch verstreut, noch fleissig am futtern. Mein Gott, wie bringe ich diese Tiere hier weg? Wie überzeuge ich sie, mir zu folgen? Ich begann, das Leittier am Halsband zu packen und wegzuzerren, in der Hoffnung, der Rest würde schon folgen. Die Ziege wehrte sich heftig, riss sich los und kehrte zu ihren Lieblingsblättern zurück.
- So kam ich nicht weiter, ich musste mir schnell was anderes einfallen lassen, es wurde schon dunkler. Ich erinnerte mich an eine Beobachtung, wie das Leittier, wenn es weitergeht, ruckartige kehrtwendet, dann folgte die Herde. Ich stellte mich also neben das Tier, ruhig, kontemplativ, und machte ruckartige Bewegungen, den Weg zurück anreissend. Ich musste es zwei, dreimal wiederholen, dann folgte mir die Leit-Ziege, deren um sie gescharrten anderen Ziegen folgten nach, zehn, zwanzig Schritte … plötzlich zerstieben die Ziegen wieder in den Büschen. Ich musste wieder von vorne anfangen: mich ruhig neben die Leitziege stellen, ruckartig mich umkehren, ein paar Schritte weiterlaufen, so lange, wie die Ziegen folgten … und wieder und wieder das gleiche Manöver beginnen.
- Dann fiel mir auf, dass jedesmal, wenn die Ziegen in die Büsche abhauten, ich gerade angefangen hatte, an etwas anderes zu denken als an die Ziegen. So blieb ich mit meinem Gedanken bewusst bei meiner Leit-Ziege hinter mir. Eigentlich ist es nicht so, dass ich nur an sie dachte. Nein, ich war kontemplativ, sie fühlend, mit ihr. Ich war fast telepathisch mit ihr verbunden. Die Leit-Ziege folgte brav, die anderen trotteten hinterher.
- Es war ein Fehler gewesen, Bergère wegzugeben, nur weil sie keine Milch mehr gab. Als Leit-Ziege hatte sie einen viel grösseren Wert. Aber das mussten wir erst lernen.
- Ich bin sicher, dass Menschen, die noch sehr mit der Natur und ihren Tieren leben, solche Sachen wissen. Nur wir Zivilisierte müssen sie wieder neu lernen.
Photos im Winter 2013/14 aufgenommen:
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